LITAUEN GERÄT IN EINE RUSSISCHE ZANGE

Aus NZZ 28.02.2022 / Rudolf Hermann

Während alle Augen auf die am Donnerstag angelaufene russische Invasion der Ukraine gerichtet sind, ist durch die massive Militärpräsenz Russlands in der osteuropäischen Region die Lage auch für den baltischen Nato-Staat Litauen ungemütlicher geworden. Denn im Rahmen des Aufmarsches hat der Kreml rund 30 000 Soldaten nach Weissrussland und damit in unmittelbare Nähe von Litauen gebracht.

Diese Kräfte hätten zwar gemäss dem ursprünglich von Moskau verbreiteten Szenario nach einem gemeinsamen Manöver mit weissrussischen Truppen wieder abgezogen werden sollen. Doch der weissrussische Autokrat Lukaschenko erklärte nach der Militärübung, die «anhaltend unruhige Situation im Donbass» mache es nötig, die russischen Soldaten im Land zu behalten. Sie würden «auf unbestimmte Zeit» stationiert bleiben.

Gänzlich von Moskau abhängig

Litauische Kommentatoren sehen das als Anfang einer «schleichenden Okkupation» Weissrusslands durch Moskau. Es werde der Kreml sein, der entscheide, wie lange die Truppen – die grösste russische Streitmacht in Weissrussland seit Ende des Kalten Krieges – im Nachbarland blieben. Lukaschenko versuche sich krampfhaft an der Macht zu halten und verkaufe dafür die Unabhängigkeit seines Landes. Diese sei wohl bald schon vollständig verscherbelt, befindet Vytis Jurkonis, ein Politologe der Universität Vilnius. Gintautas Mazeikis, Professor an der Universität Kaunas, äussert sich ähnlich. Weissrussland sei inzwischen von Russland vollkommen abhängig: wirtschaftlich, finanziell, energetisch, politisch und militärisch. Im Prinzip handle es sich jetzt nur noch um eine russische Provinz.

Der litauische Aussenminister Gabrielius Landsbergis sagte vor einigen Tagen, er sehe in den russischen Truppen auf weissrussischem Boden eine Bedrohung sowohl für die Ukraine als auch für sein Land. Die Einheiten seien in ständiger Bewegung, und es sei wohl kein Zufall, dass sich ein Teil in der Nähe der litauischen Grenze aufhalte. Das sei offensichtlich auch ein Signal an die Nato.

Mit der starken russischen Militärpräsenz in Weissrussland hat sich für Litauen die strategische Lage markant geändert. Früher hatte Lukaschenkos Bestreben, Russland und den Westen gegeneinander auszuspielen, Weissrussland zu einem Puffer gegenüber Moskau gemacht. Der Minsker Autokrat versuchte, den Kreml so gut als möglich auf Distanz zu halten, um es sich mit der EU nicht ganz zu verderben. Doch seit den gefälschten Präsidentenwahlen von 2020 und der dreisten Entführung eines Ryanair-Flugs im letzten Jahr, um des regimekritischen Bloggers Protasewitsch habhaft zu werden, ist Lukaschenko auf Konfrontationskurs mit dem Westen. Er kann seine Macht nur noch mit Putins Hilfe sichern. Die Bedingungen dafür diktiert nun Moskau, und die Truppenpräsenz dürfte eine von ihnen sein.

Damit sieht sich Litauen plötzlich auf zwei Seiten einer russischen Bedrohung gegenüber: sowohl aus Weissrussland als auch aus der hochgerüsteten russischen Ostsee-Exklave Kaliningrad. Verletzlich wird dadurch insbesondere die sogenannte Suwalki-Lücke, der rund 90 Kilometer lange gemeinsame Grenzabschnitt mit Polen, der Weissrussland vom russischen Kaliningrad trennt. Würde hier ein russischer Keil hineingetrieben, würde das die drei baltischen Nato-Staaten Litauen, Lettland und Estland vom übrigen Gebiet des Nordatlantikpakts abschneiden und ihre Verteidigung noch schwieriger machen, als sie sich ohnehin schon präsentiert.

Moskau hat dank seiner Truppenpräsenz in Weissrussland und den starken Kräften in Kaliningrad laut Giedrius Cesnakas von der litauischen Militärakademie einen strategischen Vorteil erreicht. Ob das allein für Putin schon Grund genug ist, über ein «baltisches Abenteuer» nachzudenken, ist dem litauischen Kommentator aber nicht a priori klar. Es hänge wohl erstens davon ab, wie entschieden sich der Westen Russland im Krieg gegen die Ukraine entgegenstelle. Und zweitens sei die Gefahr einer Eskalation bei einer Militäraktion gegen das Nato-Land Litauen deutlich grösser, da sie zu einem Bündnisfall führen würde.

Doppeltes Signal

Die multinationalen Kampfgruppen von insgesamt je tausend Mann, die die Nato bereits in den drei baltischen Ländern sowie Polen stationiert hat, können Russland rein zahlenmässig wenig entgegensetzen. Das ändert sich auch nicht grundsätzlich, nachdem Präsident Biden angekündigt hat, die Präsenz in der Region mit weiteren Soldaten sowie modernen Kampfflugzeugen und Helikoptern zu stärken. Die sogenannten Enhanced Forward Presence Battlegroups senden eher ein doppeltes Signal aus: an die baltischen Länder, dass die Nato bereit ist, das gesamte Bündnisgebiet zu verteidigen. Und an einen potenziellen Angreifer, dass jede Attacke einen Angriff auf die ganze Allianz darstellt.