ENTSTEHUNG DES SCHWEIZERISCH-BALTISCHEN KOMITEES

Aus einem Vortrag von Professor Jürgen von Ungern-Sternberg

Ein Millionen-Heer von Flüchtlingen und Heimatlosen vielfacher Herkunft. Da waren zunächst die nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeiter, die Überlebenden der Konzentrationslager und ehemalige Kriegsgefangene – DP’s, ‚displaced persons’ ebenso vage wie zutreffend genannt -, da waren deutsche Flüchtlinge und Heimatvertriebene, aber auch Flüchtlinge aus vielen mittel- und osteuropäischen Staaten. Und das in zerstörten Städten, bei völlig darniederliegender Wirtschaft und angesichts einer katastrophalen Ernährungslage.

Inmitten dieser Scharen gab es auch das kleine Häuflein der Deutsch-Balten. Seine Situation schildert der erste Aufruf des Schweizerisch-Baltischen Hilfskomitees vom Juni 1948:

„Die Balten haben im Nordosten Europas während 800 Jahren unter schwierigsten Verhältnissen die abendländische Kultur vertreten und zahlreiche Wissenschaftler und Künstler von internationaler Bedeutung hervorgebracht. Diese Gruppe ist von der Vernichtung bedroht. Von 200.000 Seelen vor dem ersten Weltkrieg ist sie auf 50.000 zusammengeschrumpft. Die Mehrzahl der Balten lebt heute in den Westzonen der Alliierten. Besonders gross ist die Not unter den Kindern und Alten. Von 5.000 Kindern der Westzonen zwischen 4 und 14 Jahren sind alle sehr bedürftig, 1000 sind hochgradig unterernährt und haben einen Erholungsaufenthalt im Ausland dringend nötig. Eine Gruppe von 200, hauptsächlich Waisen und Halbwaisen, ist in der Baltenschule Wyk auf Föhr, in der britischen Zone untergebracht. Von ungefähr 900 Insassen des baltischen Altersheimes in Schwetz bei Posen sind heute nur noch 160 in der britischen Zone, auf der Nordseeinsel Langeoog, wohin sie flüchteten, am Leben. Die anderen kamen in den letzten 3 Jahren durch die direkten Kriegshandlungen, Hunger und Krankheiten um. Die Kinder der Baltenschule und die Insassen des Altersheimes sind ganz besonders bedürftig, es fehlt ihnen an allem.“

Das Häuflein der Balten findet Freunde und Helfer

Die Schweiz hatte die Zeit des Zweiten Weltkriegs zwar nicht ohne Probleme, aber unbeschädigt überstanden. Danach regte sich vielerorts das Bedürfnis, angesichts der Not ringsumher tatkräftig Hilfe zu leisten. Dass dabei gerade auch die Balten ins Blickfeld gerieten, hat vielfältige Gründe. Betrachten wir die erste Mitgliederliste des Hilfskomitees, wie es sich am 1. April 1948 in Basel konstituiert hatte, so finden wir zunächst eine ganze Reihe von baltischen Namen. So etwa Lydia von der Pahlen, die Frau des bedeutenden Professors der Astronomie, Emanuel von der Pahlen, die tatkräftig die Bildung des Komitees betrieben hatte, den Schriftsteller Werner Bergengruen, André von Pilar, Frau V. Tammann, Dr. Erik Undritz, aber auch weitere mit familiärem baltischen Hintergrund, wie Fräulein Gertrud Oehler, Frau E. Rintelen-Schiemann und wohl auch der erste Präsident des Komitees, der damals bei der Basler Mission tätige Pfarrer R. Kurtz. Die Balten als eine Minderheit waren es schon von ihrer Heimat her gewohnt, Netzwerke zu wechselseitiger Hilfeleistung zu bilden. Auf der anderen, materiell wichtigeren Seite, begegnen uns Namen wie Frau H. Burckhardt-Schatzmann als Ehrenpräsidentin, Dr. Marcus Löw, Frl. Dr. h.c. M. Paravicini, Frau D. Sarasin-Dearth, Frau Marie-Thérèse Simonius-Forcart bis hin zu Frl. Helene Vischer im Seidenhof am Blumenrain. Betrachten wir dazu noch die erste Liste mit Jahresbeiträgen und Spenden, so kommen hinzu weitere Burckhardts, einschließlich des Historikers und Diplomaten Carl Jacob Burckhardt, Bernoulli, Christ, Clavel, Ehinger, Geigy, Heusler, Iselin, Vischer, Von der Mühll. Dazu noch viele andere, die insgesamt den Eindruck vermitteln, dass es die ‚gute Gesellschaft Basels’ war, um nicht zu sagen: der ‚Daig’, die sich hier der notleidenden Balten annahm. Als erste Sekretariatsadresse erscheint Rennweg 72, also das Haus Tammann. Im Frühjahr 1951 gesellte sich eine Sektion Zürich dazu, die zunächst Dr. C. A. Agthe präsidierte, während Frl. Helene Bodmer Sekretärin war. Später amtierte dann viele Jahre Frau Erna Simmen-Schwyzer als Sekretärin.

Fundraising durch kulturelle Anlässe

Neben dem Sammeln von Geld- und Sachspenden und dem Vermitteln von Patenschaften für einzelne Kinder wurde Fundraising auch durch kulturelle Veranstaltungen betrieben. Mehrmals stellten sich die drei baltischen Autoren und Mitglieder des Hilfskomitees Bergengruen, Sigismund von Radecki und Edzard Schaper für Dichterlesungen zur Verfügung, später auch einmal Zenta Maurina, die über das Werk Solschenizyns sprach. Es gab weitere Vorträge, etwa von Undritz, und mehrere musikalische Matineen in der ‚Sandgrube’, dem Hause Paul Simonius-Vischer, oder einmal im Wildtschen Haus, u. a. mit dem Pianisten Karl Engel, dem Flötisten Joseph Bopp und dem Gambisten und Cellisten August Wenzinger. Der hier anwesende Andreas Tammann erinnert sich noch an die Stühle, die er dazu einmal im Ramsteiner Hof tragen half, und an die jungen Mädchen, die nach dem Konzert in großen Kupferkesseln Spenden einsammelten, bis Baron von der Pahlen mit dem Ruf eingriff: „Jetzt ist jenuch!“ Selbst einen Bridgeabend gab es gelegentlich im Hause Simonius, bei dem mit vornehmlich englisch-französisch orientierten Teilnehmern an acht Tischen gespielt wurde. Die Nettoeinnahmen – nach Abzug der Kosten für einen guten Imbiss, wie betont wird – betrugen immerhin 600 Franken.

Mit alledem kamen durchaus beachtliche Beträge zusammen. Nach den ersten zehn Jahren hat der damalige – und insgesamt 35 Jahre seines Amtes waltende – Sekretär der Sektion Basel, Ernst Luchsinger, wir grüßen den 96-jährigen in sein Altersheim im Bachlettenquartier hinüber, den Gesamtbetrag auf genau 117.673, 64 Franken beziffert. In heutige Kaufkraft darf das etwa mit dem Faktor 5 hochgerechnet werden. Danach wurden also allein an Geldspenden – abgesehen also von den Sachspenden und wohl auch von direkten Leistungen, z.B. über die Patenschaften – nach heutigem Geldwert an die 600.000 Franken aufgebracht. Dazu haben auch einige Basler Firmen beigetragen, z.B. Frobenius mit kostenlosen Druckleistungen, allen voran aber Sandoz mit regelmäßigen hohen Spenden. Das war wohl wesentlich das Verdienst des Präsidenten des Hilfskomitees von 1958 – 1981, Erik Undritz, der als langjähriger Leiter des hämatologischen Labors von Sandoz und Herausgeber der Hämatologischen Tafeln ein international renommierter Forscher war. Seine wissenschaftlichen Verdienste sind auch von der Universität Basel durch die sehr selten verliehene Ernennung zum Ehrendozenten der Medizinischen Fakultät anerkannt worden.

Hilfe für Kinder

Mit dem Geld ist auch Erhebliches geleistet worden, wovon besonders die ersten Jahresberichte eindrücklich zeugen. So wurden sogleich 20 Kinder für sechs Wochen in das Kinderheim Gaienhofen auf der deutschen Seite des Bodensees eingeladen, das unter der Leitung des HEKS (Hilfswerks der evangelischen Kirchen in der Schweiz) stand. „Dort erholten sich die Kinder bei guter Kost (die Milch kommt aus der Schweiz), liebevoll betreut von Fräulein Gertrud Oehler, einer Baslerin.“ Im April konnten 70 Jugendliche und Studenten 14 Tage auf der Insel Mainau verbringen mit Vorträgen über Religion, Philosophie, Politik und Naturwissenschaften, aber auch Spiel, Sport und Gesang. Einer der Sänger ist Frl. Oehler lebhaft in Erinnerung geblieben. Er half später im Kinderheim und wurde schließlich ihr Ehemann: Wadim von Weymarn. Gute Taten haben manchmal auch erfreuliche Nebenfolgen. Wir grüßen Frau von Weymarn, die gegenwärtig in Schaffhausen weilt bei ihrer Tochter Natalie Zumstein. Diese ist später als Kassiererin für das Hilfswerk ebenso tätig gewesen wie jetzt ihr Bruder Constantin von Weymarn, der ihr in dieser Funktion gefolgt ist.

Zwei große Lebensmittelsendungen gingen an das baltische Internat Wyk auf Föhr, weitere an das Altersheim auf Langeoog.

Bei diesen Aktionen konnte sich das Hilfskomitee auf das Netzwerk von Verteilungsstellen und Komitees stützen, das die Deutschbalten inzwischen in der amerikanischen, englischen und französischen Besatzungszone selbst gebildet hatten. Die Baronin von der Pahlen hatte schon vor Beginn der Arbeit diesbezügliche Recherchen betrieben und darüber im Mai 1948 einen sehr aufschlussreichen Bericht verfasst.  Manche Namen begegnen da, die mit großem Einsatz viel Segensreiches geleistet haben. Ich nenne nur Pastor Girgensohn in Bethel und die Baronin Anni von Hahn, damals in Schwaben, die später von Canada aus im Rahmen des dortigen schon früh gebildeten Hilfskomitees tätig gewesen ist. Im Jahre 1974 ist sie zusammen mit Frau Simmen-Schwyzer und Herrn Undritz von der Deutsch-Baltischen Landsmannschaft für diese Hilfeleistung dankbar geehrt worden. Und ich nenne noch Frl. Marie Volck in München, die schon nach dem Ersten Weltkrieg den notleidenden baltischen Flüchtlingen geholfen hatte, und dies nunmehr in hohem Alter nochmals unermüdlich lange Jahre getan hat. Baronin von der Pahlen zitiert sie aus einem Brief:

 „Die Lage unserer jungen und alten Landsleute ist wohl zum Verzweifeln, weil vielfach alles fehlt (Kleider, Wäsche, Schuhe). Die Unterkünfte sind entsetzlich und die Unterernährung nimmt beängstigende Formen an.“

 (Frl. Volck vermittelte übrigens auch innerhalb Bayerns Aufenthalte junger Balten auf dem Lande. Auch dem hier Sprechenden wurde dies mehrmals zuteil – mit parallelen Konsequenzen zu Frl. Oehler: auch ich habe auf diese Weise meine spätere Frau kennen gelernt. Wir haben die uralte Dame als Verlobte noch besuchen können.)

 In späteren Zeiten begegnen vor allem Frau Rajniss und Herr Hollihn als wichtige Vermittler der Hilfe innerhalb Deutschlands.

 Dem zweiten Jahresbericht ist u. a. zu entnehmen, dass 24 Kinderpatenschaften vermittelt worden waren. Die Schüler des Lyzeums in Zuoz hatten Kleider für das Internat in Wyk auf Föhr gesammelt, das dann berichtete:

 „Es ist immer eine besondere Freude zu sehen, wie aus einem ‚freudlosen Erwachsenen in Kindergestalt’ ein sorglos fröhliches Kind wurde.“

 Sehr nützlich wurde die Einrichtung einer Darlehenskasse für notleidende Studenten vor allem vor dem Studienabschluss. Da diese Gelder jeweils zurückgezahlt wurden, haben sie noch lange Jahre vielfach geholfen.

Im Altersheim auf Langeoog konnte mit Hilfe des Hilfskomitees die Heizung saniert werden gerade rechtzeitig in den kalten Oktobertagen wie berichtet wird:

„ […] da gab es ein allgemeines Erwachen und ein staunendes Hintasten zu den Heizkörpern […] am Morgen war das ganze Haus schön durchwärmt und aus tiefdankbarem Herzen erklang um 7 Uhr morgens unser ‚Nun danket alle Gott’ durch alle Räume.“

Aber auch die Balten in der russischen Zone und die Flüchtlinge von dort kamen jetzt allmählich ins Blickfeld.

Hilfsleistungen in die Bundesrepublik und in die DDR

In dieser Richtung verlagerten sich allmählich die Hilfsleistungen, auch wenn es zunächst auch in der jungen Bundesrepublik noch genügend hilfsbedürftige Kinder und alte Leute gab. Das Wirtschaftswunder erreichte keineswegs gleich alle. Im sechsten Jahresbericht (1953/54) wird dazu bemerkt:

 „Wir haben […] auch in der Bundesrepublik weiter geholfen und uns in unserer Hilfeleistung nicht von der hauchdünnen Schicht wohlhabender Deutscher aus dem Reich abhalten lassen, die sich auch im Ausland alles leisten können. Von den geflüchteten Balten dürfte kaum jemand dazu gehören.“

Und im siebten Jahresbericht (1954/55) ist dementsprechend von einer Verteilungsstelle zu lesen:

 „Die neuen Schuhe und Laken werden von unseren Besuchern häufig vollkommen fassungslos in Empfang genommen; viele sagten, sie hätten nicht zu hoffen gewagt, noch je in ihrem Leben solch wundervolle Sachen zu besitzen! Eine Mutter von vier Kindern sagte, als sie ein neues Paar Kinderschuhe bekam, ihre siebenjährige Tochter hätte damit die ersten neuen Schuhe, bisher hätte sie nur die schon stark getragenen Schuhe von zwei älteren Geschwistern tragen müssen. […] Eine ältere Landsmännin, die persönlich ein Paar Schuhe und ein Laken aus der Schweizer Spende bekam, […] fragte mehrmals: ‚Wirklich, das soll ich mitnehmen dürfen, das ist für mich?’ Sie hatte ein Paar Schuhe an, das der Schuster mit Ausschnitten verschiedenen Formates und Aussehens wenigstens soweit gebracht hatte, dass sie sie tragen konnte. Und zum Laken sagte die gleiche Besucherin […] ganz leise: ‚Das ist mein einziges Laken, seit 1945 habe ich in Resten von Tischtüchern und bunten Flicken geschlafen.’“

Noch im Jahre 1958 haben Ernst Luchsinger und Frau Simmen über die Anschaffung von Bettlaken korrespondiert. Da ging es um die Ausstattung von Flüchtlingen aus der Ostzone / DDR. Wichtig wurde nun aber der Reisedienst, durch den einsam und oft auch hilflos auf dem Land lebende Landsleute regelmässig besucht und beraten wurden. Andererseits waren numehr auch Rentner zu unterstützen, die als über 60-jährige – anders als die übrigen Bewohner der DDR – die Möglichkeit hatten, in die Bundesrepublik zu reisen.

Unverkennbar ging aber die allgemeine Not nunmehr doch sehr zurück; auch wenn die Lebensmittelpakete und andere Hilfen für viele Familien oder alte Leute immer noch schon rein psychologisch, als Zeichen dafür, nicht vergessen zu sein, wichtig waren. Das Spendeneinkommen blieb auch längere Zeit noch erfreulich hoch.

In diesem Moment, genauer: gerade zur ‚Halbzeit’ des Hilfskomitees im Jahre 1978, bin ich selbst Mitglied des Komitees geworden. Herr Undritz hatte meinen Namen im Vorlesungsverzeichnis der Universität entdeckt und mich kurzerhand ‚eingemeindet’. So kann ich noch aus eigenem Erleben von den Jahresversammlungen im Hause Undritz in der Neubadstraße 83 berichten. Sie fanden von Anfang an jeweils im Januar statt. Nach den Regularien der Jahresversammlung – es referierte vor allem der damalige Vizepräsident und Kassier Nikolaus Bischoff – blieb man noch gemütlich bei Köstlichkeiten zusammen, die Rolla Undritz freundlich bereit gestellt hatte. Am offiziellen Teil nahm sie keinen Anteil. Erik Undritz war gesundheitlich schon sehr eingeschränkt, hatte aber für mich noch eine große menschliche Ausstrahlung. Schweizer und Balten oder beides in einer Person – es war die Atmosphäre eines Familientreffens, wozu eine so urbaltische Gestalt wie Frl. Nina Michel als nunmehrige Vertreterin Zürichs wesentlich beitrug.

Nach dem Tode von Undritz Ende 1984 geriet das Hilfskomitee allmählich in eine ‚Sinnkrise’. Dies ist nicht den beiden nächsten Präsidenten, Herrn Bischoff (1982-1987) und Frau Mareile von Haken-Bernewitz (1988-1994) anzulasten, die das Erbe treulich zu verwalten suchten. Vor allem nach dem Ende der DDR 1989/90 stellte sich aber durchaus die Frage, ob das Hilfskomitee noch sinnvolle Aufgaben habe – wenngleich nach dem Worte Jesu Arme (in jedem Sinne des Wortes) allezeit unter uns zu finden wären. Aber Hilfe von der Schweiz aus in das glücklich wiedervereinigte Deutschland? War das wirklich noch notwendig?

Entschlossener Neuanfang

In dieser Situation bedeutete die Wahl von Herrn Axel C. Scherrer-Rychen zum Präsidenten des Hilfskomitees im Jahre 1995 einen entschlossenen Neuanfang. Immerhin hatte ein Großonkel von ihm, Dr. H. Boehringer aus Genf, zu den ersten Förderern des Komitees gezählt. Im wesentlichen indes kam Herr Scherrer von außen, aber mit lebhaftem Interesse an den baltischen Ländern, und führte eine Umorientierung herbei: Hilfe für die und in den baltischen Staaten selbst, die 1991 endlich nach jahrzehntelanger Unterdrückung frei geworden waren: Estland, Lettland, nun aber auch Litauen. Eine Umorientierung, die übrigens zahlreiche Deutschbalten zur selben Zeit vollzogen haben. Interessant ist dabei, dass bereits im Jahre 1948 eine Ausdehnung der Hilfe auf geflohene Esten und Letten von der Baronin von der Pahlen angeregt worden ist. Damals kam das aber für die Mehrheit des Komitees offenbar nicht in Betracht. Die meisten dieser Flüchtlinge sind dann bald abgewandert, vor allem nach Canada und den USA.

Zwar gab es im Baltikum Anfang der 90er Jahre nicht die kriegerischen Verwüstungen wie nach 1945, aber der Zusammenbruch der sowjetischen Wirtschaft hatte für viele Menschen ähnlich katastrophale Folgen. Alle Industrie in den baltischen Sowjetrepubliken war in die gesamtsowjetische Planwirtschaft einbezogen gewesen. Mit der Selbstständigkeit brachen die meisten Betriebe zusammen. Gleichzeitig hatten viele durch die Geldentwertung ihre Ersparnisse verloren. Ganz zu schweigen davon, dass von den Wohnungen und Häusern bis hin zu den Schulen, Krankenhäusern und Altersheimen vieles in katastrophalem Zustand war. Und Kinder wie Alte waren wieder besonders von dieser Notsituation betroffen.

Hier gab es viele neue Aufgabenfelder – und Herr Scherrer war der Mann, sie zu beackern. Vor allem hat er es durch sein weit gespanntes Beziehungsnetz verstanden, das immer doch recht begrenzte Spendenaufkommen des Komitees durch das Auftreiben immer neuer Sachspenden in der Schweiz gleichsam zu multiplizieren. Also z.B. reichlich vorhandenes überflüssiges Sanitätsmaterial der nolens volens allmählich auch etwas abrüstenden Schweizer Armee bei Übernahme der Transportspesen zu baltischen Krankenhäusern zu expedieren. Hinzu trat die Sorge für die Straßenkinder in Tallinn, Hilfe zur Renovation und Ausstattung von Altersheimen (Aizpute/Hasenpoth) und Krankenhäusern (Klaipeda; Rezekne; Kinderspital Tallinn) und manches andere bis hin zur Vermittlung von 70.000 Paar neuen Winterstiefeln von Bally.

Gleichzeitig wurde eine Tradition der Anfangszeit neu belebt: die Durchführung kultureller Veranstaltungen. Nicht so sehr zum Zwecke des Fundraising, sondern um baltischen Künstlern, vor allem Musikern, und da vor allem wieder den mit Recht berühmten baltischen Chören Auftritte in der Schweiz zu ermöglichen. Viele der Anwesenden können sich an diese in jeder Hinsicht bereichernden Abende erinnern. Ich nenne nur den allerletzten vor genau einer Woche in der Leonhardskirche. Wie hier die Kammerchöre der Hochschulen für Musik in Riga und Basel nacheinander und vor allem miteinander sangen, war tief bewegend. Und machte zugleich klar, dass es schon sehr viel mehr eben um Austausch als nur um einseitige Hilfe geht. Und doch bleibt diese noch für geraume Zeit bitter notwendig. Schon in den Zeiten der Hochkonjunktur gab es noch viele Menschen in den baltischen Staaten, die den Sprung in die neue Zeit nicht geschafft hatten. Jetzt wo die baltischen ‚Tiger’ eher zu kläglich miauenden Katzen zu werden drohen, wird sich das gewiss nicht ändern.

Denken wir also dankbar an das zurück, was eine frühere Generation an Hilfe für Mitmenschen geleistet hat, und fahren wir mit unserer Hilfe fort. Sollten sich die Verhältnisse in den baltischen Staaten – wie wir alle hoffen und wünschen – weiterhin bessern, dann kann ja dereinst eine neue Standortbestimmung erfolgen. Sie wird durch den heutigen Beschluss, in Zukunft als ‚Schweizerisch-Baltisches Komitee’ zu firmieren, bereits angebahnt. Nichts wäre schöner, als wenn wirklich einmal festgestellt werden könnte, dass die karitativen Aufgaben entfallen sind.  In dieser Hinsicht muss ja nicht unbedingt ein hundertjähriges Jubiläum gefeiert werden.