Grosses Wohlstandsgefälle in den baltischen Staaten

NU-Den baltischen Staaten geht es immer wie besser, aber das Wohlstandsgefälle wird grösser. Das belegt stellvertretend nachfolgender Artikel der NZZ vom 29.01.2019 über Lettland. Darum ist auch unsere Unterstützung so wichtig. Aus eigener Erfahrung müssen wir feststellen, dass der soziale Beistand des Staates im Bereiche der Armut noch nicht greift.

Bild: Edite Gavricova lebt in einer Kleinstadt und hütet ihre zwei Enkelinnen, damit ihre Tochter einer Arbeit in den Niederlanden nachgehen kann.

Riga und der Rest des Landes

Nirgendwo in Europa ist der politische und gesellschaftliche Graben zwischen Hauptstadt und Provinz so gross wie in Lettland. Die Mehrheit der lettischen Bevölkerung und der Wirtschaftsleistung konzentriert sich auf die Hauptstadtregion. Das strapaziert den sozialen Zusammenhalt im Land.

Rudolf Hermann, Valmiera/Riga

«Die verstehen doch gar nicht, was jenseits der Stadtgrenzen abläuft», sagt Elina Leimane mit einem sarkastischen Unterton. Mit «die» meint sie die Hauptstädter in Riga, und zwar nicht nur die Alteingesessenen, sondern vielleicht noch mehr die aus der Provinz Zugezogenen, die sich nun plötzlich überlegen fühlten. Selber sitzt Leimane in der Provinz, genau gesagt in der Kleinstadt Valmiera rund hundert Kilometer nordöstlich von Riga, wo sie die lokale Agentur für Wirtschaftsförderung betreut. Den Ort würde sie für nichts in der Welt wechseln wollen.

Dies liegt nicht daran, dass Valmiera pro Kopf der Bevölkerung hinter Riga die zweithöchste Wirtschaftsleistung in Lettland erbringt; Elina Leimane ist vielmehr eine überzeugte Lokalpatriotin und stolz darauf, dass ihre Stadt von 25000 Einwohnern, die weder von der Grösse noch der Lage her besonders günstige Voraussetzungen mitbrachte, sich mit geschickter Entwicklungspolitik eine vielversprechende Zukunft zu schaffen vermocht hat.

Eine rare Erfolgsgeschichte
Das ist in Lettland schwieriger als anderswo. In keinem anderen europäischen Land mit Ausnahme des Stadtstaates Vatikan ist die Hauptstadt so dominant wie hier. Im Metropolitanraum Riga wohnt laut einer OECD-Statistik gut die Hälfte der knapp zwei Millionen starken Gesamtbevölkerung Lettlands, und fast 70 Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung werden hier erarbeitet. Das lässt der knappen anderen Hälfte der Landesbevölkerung, die nicht im Einzugsgebiet der Kapitale wohnt, nicht besonders viel übrig. Dass Valmiera mit einer Bevölkerung, die etwa derjenigen Wetzikons oder Wädenswils entspricht, unter den zehn grössten Städten Lettlands figuriert, sagt schon einiges aus über die gähnende Kluft zwischen Hauptstadt und Provinz.

Umso erstaunlicher ist Valmieras ­Erfolgsgeschichte. Mit einer Industrie-Basis in Chemie, Holzverarbeitung und Metall, die man aus der mittlerweile fast dreissig Jahre zurückliegenden Sowjetzeit erbte, wäre eigentlich eher ein Abstieg vorprogrammiert gewesen, wie an so vielen anderen vergleichbaren Orten in früheren Ostblockländern.

Doch, wie Elina Leimane erklärt, ist es mit einer Kombination aus sachorientierter Lokalpolitik, guter Unternehmensführung, ausländischen Investitionen und geschicktem Einsatz von EU-Strukturhilfen gelungen, die alten Betriebe nicht nur am Leben zu erhalten, sondern sie zu modernisieren und Valmiera zum drittwichtigsten Industriestandort Lettlands werden zu lassen. Jeder vierte Arbeitsplatz der Stadt sei heute industrieller Prägung. Arbeitslosigkeit praktisch inexistent und die Abwanderung aus der Provinz, die so manch andere Region Lettlands plagt, kein Thema. «Im Gegenteil, wir haben Zuwanderung», berichtet Leimane, «obwohl die Lebenskosten hier inzwischen nicht mehr wirklich niedriger sind als in Riga. Wir sind mit unserem Arbeits-, Ausbildungs- und Freizeitangebot attraktiv für junge Familien.»

Auf der Zugfahrt von Valmiera in die Hauptstadt lässt sich darüber nachdenken, was dieses Provinznest besser macht als andere. Denn dass man tief in der Provinz ist, daran herrscht kein Zweifel. Der Zug, eine aufgemöbelte Dieselkomposition aus der der sozialistischen Ära, fährt drei oder vier Mal am Tag (der Bus allerdings deutlich häufiger) und rumpelt die meiste Zeit durch tiefen Wald. Von einsamen Bahnstationen gehen Naturstrassen weg und verlieren sich zwischen Bäumen; die Dörfer, zu denen sie führen, lassen sich höchstens erahnen. Das Wort Strukturschwäche bekommt hier einen sehr konkreten Inhalt.

In Riga bestätigt Iveta Kazoka, die Direktorin der auf gesellschaftspolitische Fragen spezialisierten Denkfabrik Providus, dass es sich bei Valmiera um eine Ausnahme in der lettischen Landschaft der Provinzstädte handelt. Irgendwie hätten es die Akteure der lokalen Politik und Wirtschaft dort über lange Zeit geschafft, produktiv zusammenzuarbeiten, statt sich zu streiten. Ausserdem pflegten sie gute Beziehungen zur Zentralregierung. Es sei nicht einfach, herauszufiltern, was beim «Erfolgsmodell Valmiera» auf Glück und was auf gute Politik zurückzuführen sei.

Grosses Wohlstandsgefälle
Generell jedoch sei das Wohlstandsgefälle zwischen Hauptstadt und Regionen markant. In Riga entspreche der Lebensstandard inzwischen etwa dem EU-Durchschnitt, doch in der Region Lettgallen, die eine der ärmsten in Lettland ist und an der Grenze zu Russland liegt, erreiche er das Hauptstadt-Niveau bloss zu einem Drittel. Umgekehrt proportional verhält es sich dafür bei der Arbeitslosigkeit.

Die typische Aspiration des Bewohners einer ländlichen Region, sagt Kazoka, lasse sich deshalb etwa nach dem folgenden Muster beschreiben: zuerst überhaupt einen Job zu ergattern, dann nach Riga zu ziehen und im besten Fall von dort aus in ein anderes EU-Land. Was es deshalb dringend brauche, sei eine nationale Strategie zur Stärkung regionaler Zentren, die dann mehr Bevölkerung zurück in die ländlichen Gebiete locken könnten.

Das sei eine politisch allgemein anerkannte Notwendigkeit, sagt Kazoka. Doch darüber, wie dieses Ziel zu erreichen sei, gingen die Meinungen weit auseinander. Umstritten sei beispielsweise die Frage, ob mehr Zentralisierung oder vielleicht eher mehr Dezentralisierung zielführend sei.

Für Dezentralisierung spricht, dass lokale Entscheidungskompetenzen die Politik näher zu den Bürgern bringen. Allerdings, erklärt Kazoka, seien motivierte Lokalpolitiker Mangelware. Mehr Zentralisierung könnte hingegen mehr Synergien generieren und einen effizienteren Einsatz der vorhandenen Mittel ermöglichen. Aber nur unter der Voraussetzung, dass die Zentralregierung selber ebenfalls effizient arbeite, und davon sei man zurzeit ein ganzes Stück entfernt.

Auch in Valmiera, einem der lettischen Musterbeispiele einer geglückten Regionalentwicklung, kämpft man mit dem Problem der Kompetenzenverteilung. Elina Leimane sähe gerne mehr Entscheidungsbefugnisse auf der regionalen Ebene, aber nicht unbedingt auf der kommunalen. Aus umliegenden Gemeinden pendeln rund 5000 Arbeitnehmer nach Valmiera. Für sie muss die Stadt öffentliche Infrastruktur bereitstellen, ohne aber im Gegenzug an den lokalen Steuereinnahmen der Wohngemeinden der Pendler, die diese Kosten verursachen, beteiligt zu sein. «Wir haben zu viele und zu kleine Gemeinden», findet Leimane.

Man versuche, den Politikern in Riga die Bedürfnisse der regionalen Zentren zu erklären, sagt sie. Das geschehe sowohl über eine Interessenvereinigung der neun grössten Provinzstädte als auch über eine eigene regionale Vertretung Valmieras direkt in der Hauptstadt. Man habe auch durchaus den Eindruck, dass die Anliegen der Regionen zunehmend zur Kenntnis genommen würden. Doch das Problem sei eben auch, dass die Wünsche und Möglichkeiten der einzelnen Provinzstädte teilweise weit auseinanderklafften.

Die Hauptstadt ist anders
Als wäre der Unterschied von Stadt und Land nicht schon auf wirtschaftlicher Ebene markant genug, kommt noch ein politisch-gesellschaftlicher Graben zwischen Riga und dem Rest hinzu. Die Hauptstadt ist ein eigenartiges Gebilde, was in ihrer Geschichte begründet liegt. Traditionell die wichtigste Stadt im Baltikum, hat Riga seit Jahrhunderten ein multikulturelles Gepräge. Durch die Vergangenheit als Hansestadt gab es lange einen starken deutschbaltischen Einfluss, der auch anhielt, als Riga unter die Herrschaft des russischen Zaren kam.

Unter der sowjetischen Okkupation Lettlands vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch der UdSSR wurde die lettische Hauptstadt gezielt russifiziert; Moskau wollte damit, wie andernorts im widerspenstigen Baltikum, unerwünschte «nationalistische» Tendenzen zurückdrängen. Als Ergebnis hat Riga seit der Wiedererlangung der lettischen Staatlichkeit 1991 einen russischsprachigen Einwohneranteil von rund 45 Prozent, der sich mit der Zahl der ethnisch lettischen Bevölkerung praktisch die Waage hält.

Die multiethnische, kulturell diversifizierte und im landesweiten Vergleich reiche Grossstadt Riga tickt damit ganz anders als die Regionen, wo (mit Ausnahme der östlichen Grenzregion Lettgallen) generell die ethnisch lettische Bevölkerung eine klare Mehrheit bildet. Riga wird seit Jahren von der sozialdemokratischen Harmonie-Partei regiert, deren Wählerbasis hauptsächlich von der russischsprachigen Bevölkerung stammt. Auf gesamtstaatlicher Ebene jedoch wird die Harmonie-Partei, wiewohl sie aus Wahlen oft als grösste einzelne Formation hervorgeht, von den übrigen Parteien systematisch von der Regierung ferngehalten. Riga als gesellschaftlicher Organismus und Riga als Sitz der staatlichen Zentralorgane sind deshalb auch zwei sehr unterschiedliche Welten.

Unnötige Reibungsverluste
Daraus ergeben sich Reibungsverluste, die der Entwicklung Lettlands in ihrer Gesamtheit schaden. Bei der Absorption von EU-Fördergeldern zum Beispiel habe Riga durch seine Konflikte mit der Zentralregierung mehr Probleme als manche Provinzstadt, weil der Staat bei den Projekten mitentscheide, sagt die Sozialforscherin Kazoka.

Das sei allerdings mehr eine Folge von politischen Machtkämpfen und nicht eine Reflexion von Spannungen unter den ethnischen Blöcken. Zudem habe sich die Harmonie-Partei ihre Marginalisierung auf gesamtstaatlicher Ebene weitgehend selber zuzuschreiben. Es handle sich um eine autoritär geführte und korruptionsanfällige Formation, die nicht leicht in den Politikbetrieb einzugliedern sei.Bei der in Riga fest im Sattel sitzenden Harmonie-Führung scheint man sich angesichts dieser Lage pragmatisch zu sagen, wenn es auf gesamtstaatlicher Ebene nicht klappen wolle, habe man ja mit der Hauptstadt immer noch praktisch die «Hälfte» des Landes unter Kontrolle. Für die Stärkung des ohnehin brüchigen sozialen Zusammenhalts in Lettland ist dies indes kaum das beste Rezept.