GUTSHÖFE IM BALTIKUM MIT GROSSEM CHARME
Von Christine Burkhardt, Geschichtswissenschafterin BaselVortrag gehalten an der Jahresversammlung des Schweizerisch Baltischen Komitees vom 18. September 2021, niedergeschrieben im Oktober und anschliessend formatiert und in diese Homepage durch Nils Undritz aufgeladen.
Einleitung
Schon als ich ein Kind war, übten die Gebiete an der südlichen Ostsee und Namen wie Samland, Kurland, Baltikum grosse Anziehungskraft auf mich aus, und sobald sich die Möglichkeit bot, unternahm ich Reisen nach Litauen, Lettland, Ostpreussen und Estland.
Die Städte des Baltikums unterschieden sich schon zu Sowjetzeiten von Leningrad und Moskau: Das Leben wirkte bunter, es gab Restaurants und Teestuben, zwar mit fest zugezogenen Vorhängen und nicht leicht zu entdecken, und in Begleitung einer linientreuen Stadtführerin konnte man sich als Reisende in Tallin, Riga und Vilnius frei bewegen.
Unter Glasnost und Perestroika begann in den Städten ein sanfter Tourismus, frühere Sperrgebiete, wie Kurland oder der Ostseehafen Pillau, wurden frei zugänglich und spontane private Übernachtungen möglich, dies ein Glück, denn es herrschte ein grosser Mangel an Hotels. Verständigen konnten wir uns, die wir weder Russisch noch die baltischen Sprachen beherrschten, mit Mimik und Gestik und mit älteren Leuten oft auf Deutsch.
Nach der Unabhängigkeit erwachten vor allem die Städte des Baltikums zum Leben, aber bis zu meiner letzten grossen Dreiländerreise 2003 blieb das Hinterland in einem zwar romantischen, aber doch sehr rückständigen Zustand mit ungeteerten Strassen, Ruinen und grosser Armut. Inzwischen sind Jahre vergangen, und das hat sich hoffentlich alles verändert.
Ursprünglich auf den Spuren jüdischen Lebens im Baltikum zogen uns auch die unzähligen ehemaligen Herrenhäuser der deutschen Barone immer mehr in ihren Bann: Ihre verblichene Schönheit, aber auch ihr Zerfall boten uns einen Blick in eine vergangene Welt.
Wir wurden Spezialistinnen im Entdecken dieser Gebäude, die fast in jedem Dorf Lettlands und Estlands zu finden waren (Litauen besass auf Grund seiner Geschichte weniger davon), und fotografierten sie: zerfallen, als Ruinen ohne Innenleben, in altem Glanz, in neuer Funktion und oft inmitten eines wunderschönen Parks mit altem Baumbestand, kleinem See oder Weiher, am Ende einer Allee – melancholische Überreste mit grossem Charme.
Die Geschichte des Baltikums
(Zuerst ein kurzer Abriss über die Geschichte des Baltikums)
A. Gleiches und Unterschiedliches
Die 3 Länder Estland, Lettland und Litauen werden oft als Einheit genannt, als Baltikum. Dieser Name taucht erstmals in Schriften der Antike auf, gemeint war damals vermutlich eine sagenumwobene Bernsteininsel in der Ostsee oder die Küste Südskandinaviens.
Später bezieht sich der Begriff ‚baltisch‘ auf das Meer, auf die Ostsee: So nennt der Chronist Adam v. Bremen als Erster dieses Meer ‚mare balticum‘, was heute zB. im Russischen oder im Französischen noch der Fall ist. Erst im 19. Jhdt. werden die Bezeichnungen ‚Balten‘ und ‚baltisch‘ im politischen Sinn verwendet, und zwar in verschiedender Art u. Weise: Manchmal meint der Begriff nur die Länder Estland und Lettland, oft auch die deutschen, ausschliesslich der Mittel- und Oberschicht angehörenden Bewohner der 3 russischen Ostseeprovinzen Livland, Estland und Kurland.
Wir sprechen heute vom Baltikum und meinen Estland, Lettland und Litauen, 3 Länder, die sich aber in Landschaft, Geschichte, Sprache und Religion unterscheiden: So sind in Litauen etwa 77% der Bevölkerung katholisch, während Lettland nur im Osten eine römisch-katholische Minderheit besitzt, mehrheitlich aber dem evangelisch-lutherischen Glauben folgt.
Denkt man an Estland, sieht man Wasser, Sandböden und Birken, Litauen aber ist zu 1/3 von Wald bedeckt, der sich auf flachen Ebenen, aber auch auf Hügelketten erhebt.
Interessant ist auch die Verschiedenheit der Sprachen, die auf die unterschiedliche Herkunft bei der Einwanderung zurückzuführen sind.
Während die späteren Esten und Liven um 4000-3000 v. Chr. von Asien her nach Westen vordringen, die Region am Finnischen Meerbusen besiedeln und eine finnisch-ugrische Sprache sprechen, wandern die indoeuropäischen Litauer, Letten und Pruzzen um 2000-1800 v. Chr. aus der Weichselregion ein. Sie besitzen bereits Streitäxte, dank denen sie die Finno-Ugrier nach Nordosten verdrängen können. Heute sprechen die Esten immer noch ihre finno-ugrische Sprache (nahe verwandt mit dem Finnischen, weit verwandt mit dem Ungarischen).
Die Letten verwenden das indoeuropäische Lettisch; eine livländische, also finnisch-ugrische Minderheit findet sich noch in Kurland. Es wird wird versucht, das Livländische wiederzubeleben.
Die Zeit der Sowjetunion hat sprachlich vor allem in Lettland ihre Spuren hinterlassen. 1990 beherrschte nur noch jeder zweite Mensch die lettische Sprache, heute bemüht sich der Staat, Lettisch als Nationalsprache im Volk zu verankern.
Lettisch und Litauisch sind sich sehr ähnlich: so heisst ‚Guten Tag‘, auf lettisch LAB DIEN, auf litauisch LABA DIENA. Im indoeuropäischen Litauisch haben sich die alten Formen am reinsten erhalten, Gelehrte erkennen noch die Verwandtschaft mit dem indischen Sanskrit.
Die anderen baltischen Sprachen des indoeuropäischen Stammes sind ausgestorben.
B. Am Anfang der baltischen Geschichte
stehen der Bernstein und die Bernsteinstrasse. Vor 60 Millionen Jahren ist Nordeuropa fast flächendeckend von Fichten- und Kiefernwäldern überzogen. Die Unmenge von Harz, das diese Bäume absondern, wird von den nachfolgenden Eiszeiten gut konserviert. Nachdem sich das Eis zurückgezogen hat, gelangen die ersten Menschen an die baltische Küste; erste Zeugnisse menschlicher Besiedlung (Aexte von Nomaden) datieren von 2400 v. Chr.
In der Eisenzeit gibt es erstmals einen zusammenhängenden Besiedlungsraum, der von der Wechsel bis fast nach Moskau reicht. Und die Menschen, so berichtet der römische Schriftsteller Plinius, nutzen den Bernstein: statt Holz zum Brennen, aber vor allem als Handelsware; sie verkaufen ihn an die benachbarten Teutonen, von wo er seinen Siegeszug durch Mittel- und Südeuropa antritt und erstmals in Texten in assyrischer Keilschrift, aber auch bei Tacitus erwähnt wird.
Damals ist die Herkunft des Bernsteins unbekannt; deshalb ranken sich um seine Entstehung verschiedene Sagen. Die bekannteste ist wohl die altlitauische Mär von den ‚Tränen der Jurate‘.
Jurate, die Meeresgöttin, verliebt sich in den junge Fischer Kastytis, lockt ihn in ihren Bernsteinpalast auf dem Meeresgrund und vermählt sich mit ihm. Damit verstösst sie gegen das Verbot, einen Sterblichen zu heiraten, und der Göttervater Perkunas zerstört mit seinem Donnerkeil Jurates Palast. Seitdem spülen Wellen immer wieder kleine Bernsteinstücke an den Strand, Jurates Tränen.
C. Das 2.-5, Jhdt. n. Chr. ist das goldene Zeitalter des Baltikums: hier kreuzen sich Handelswege, hier wird Leder, Seife, Pelz und Getreide ausgetauscht, hier blüht der Ackerbau, und die Baltenstämme, Esten, Letgallen, Liven, Kuren, Litauer u. Pruzzen lebten in grossem Wohlstand.
Inzwischen breitet sich das deutsche Reich weiter gegen Osten aus. Vom 1158 von Heinrich d. Löwen gegründeten Lübeck aus schliessen sich Mönche den Handelskarawanen an, und der Augustinermönch Meinhard wird vom Erzbf. v. Bremen zum 1. Bischof im Baltikum ernannt, zum Bf. v. Ueksküll. Dieser Adalbert v. Bremen fährt später mit 500 Mann und zwei Dutzend Schiffen die Düna hinauf und unterwirft das Land der Kisen, Selen und Liven; an der Mündung des Flusses entsteht wenig später die Stadt Riga.
Im Hoch- und Spätmittelalter besetzt der Deutschritterorden also weite Gebiete des Baltikums; Litauen aber bleibt unabhängig.
Die Handelsstädte können sich weitreichende Freiheiten sichern, gelangen zu grossem Wohlstand und werden von ihren Handelspartnern Deutschland, Dänemark und Schweden stark beeinflusst.
Im 16. Jhdt. misslingt zwar den Russen im sog. Livländischen Krieg die Eroberung von Estland und Lettland, aber Kurland und Livland geraten unter die Oberhoheit der zu Hilfe gerufenen Polen, Estland wird schwedisch und die Insel Saremaa dänisch.
Das Zarenreich kann sich dann aber im 18. Jhdt. des Baltikums bemächtigen und beherrscht es bis zum 1. Weltkrieg. Erst am Ende des Krieges entstehen die Republiken Estland, Lettland und Litauen (nur die Gegend um Vilnius geht an Polen verloren), und das Baltikum ist zum ersten Mal frei und unabhängig.
1939, mit Beginn des 2. Weltkrieges, ist es mit der Freiheit aber bereits vorbei: Im deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt wird das Baltikum als sowjetische Interessenssphäre bezeichnet, und als sich die 3 Staaten weigern, den Vertrag anzuerkennen, werden sie von den Russen angegriffen. Das neugewählte baltische Parlament stimmt nun gezwungenermassen der Eingliederung in die Sowjetunion zu.
Deutschland aber veranlasst die nahezu vollständige Umsiedlung der deutsch-baltischen Bevölkerung in das besetzte Polen (in den Warthegau und nach Westpreussen).
1941 ändert sich das Bild erneut: Deutschland marschiert im Baltikum ein, der Vertrag mit der Sowjetunion ist Makulatur und gilt nicht mehr. Ein Grossteil der baltischen Bevölkerung begrüsst die neuen Besatzer und unterstützt deren Massnahmen. Tausende treten in die Waffendivision der SS ein, aber auch auf Seiten der Roten Armee kämpfen viele Balten gegen die Besatzer ihrer Länder.
In der 2. Hälfte des Jahres 1944 werden die baltischen Länder erneut von den nach Westen vorrückenden sowjetischen Truppen besetzt und als sozialistische Sowjetrepubliken der Sowjetunion einverleibt.
Die 3 Besatzungswellen des 2. Weltkrieges bedeuten für die baltischen Staaten einen ungeheuren Verlust an Menschen: Zwischen 1940 und 41 verschleppen und ermorden die Russen den Grossteil der Oberschicht, des Militärs und des Klerus. Die Nazis massakrieren später fast die gesamte jüdische Bevölkerung. Und bis 1950 werden 10% der männlichen Bevölkerung ermordet oder in russische Gulag verschleppt.
Erst mit Michael Gorbatschows Machtantritt im März 1985 und seiner Politik von Glasnost und Perestroika verändert sich die Geschichte der baltischen Staaten. Obwohl er Verständnis zeigt und Reformen verspricht, beginnen in den drei Hauptstädten Demonstrationen mit weiteren Forderungen, auf welche die Sowjetunion mit Gewalt reagiert. In allen 3 Ländern entstehen darauf Volksfronten, deren Programm die vollständige Loslösung des Baltikums von Russland vorsieht.
Der Weg der Freiheit beginnt am 23. August 1989, als eine Million Balten auf der Via Baltica, die Tallin, Riga und Vilnius verbindet, eine 600 km lange Menschenkette bildet. Die Menschen fordern den Austritt aus der UdSSR. Die Entmachtung von Gorbatschow lässt das Sowjetsystem dann endgültig zusammenbrechen und bringt nach Estland und Lettland auch Litauen die Freiheit.
Heute sind Estland, Lettland und Litauen ein wertvollerTeil Europas.
Die baltischen Barone und ihre Herrenhäuser
A. Einige Stammbäume der Barone aus den Baltikum, Erbauer und lange Jahre Besitzer der Herrenhäuser in den baltischen Ländern, reichen bis ins 13. Jhdt. zurück. Die Wrangell, Stackelberg, Manteuffel, Fircks, Medem, Lambsforff etc. bilden über 700 Jahre die Oberschicht der baltischen Länder, spielen aber auch eine erheblich Rolle in der Geschichte Russland, dem sie zahlreiche Politiker und Militärs liefern.
Vom Ende des dt. Ritterordens 1561 bis zum Ende des 1. Weltkrieges wird das Baltikum von 4 Ritterschaften in den Gebieten Kurland, Livland, Oesel (heute Saarema) und Estland regiert, die in den verschiedenen Epochen wechselnd unter dänischer, schwedischer, polnischer und zuletzt russischer Oberhoheit stehen. Diese Ritterschaften rekrutieren sich vorwiegend aus Adeligen deutscher Herkunft, deren Vorfahren mit dem dt. Orden oder aber mit der Hanse in die Länder gekommen sind. Sie empfinden sich als eine eigene Schicht und sind bestrebt, sich vom Beamtenadel abzugrenzen. Dazu dienen sog. Adelsmatrikel / Geschlechterbücher mit einem Verzeichnis der Familiennamen, der Herkunft und dem Stammbaum. Wer nicht darin eingetragen ist, wird nicht als adelig anerkannt. In Livland und Oesel müssen die Adeligen darüber hinaus auch Gutsbesitzer sein. (Von den 753 eingetragenen Adelsgeschlechtern, blühen heute noch ungefähr 350.)
Die Eingetragenen, dh. jeder Gutsbesitzer, sind Mitglied des Landtags, dienen dem König / Zar in Krieg und Frieden, nehmen an der Verwaltung teil und zahlen einen Teil der Kriegssteuer.
B. Nun aber zu ihren Gutshäusern
Herrenhäuser finden sich aufgrund der andersartigen Geschichte Litauens vor allem in Estland und Lettland, wo man sie heute noch fast in jedem Dorf entdecken kann. Sieht man in einem Ort eine Eichel-, Pappel- oder Lindenallee, verbirgt sich an deren Ende mit grosser Wahrscheinlichkeit ein Herrenhaus. Kein anderes europäisches Land kann auf ein solches Erbe zurückgreifen. Während einige wenige neben zerstörten Ordensburgen als Zentrum eines Gutes im 17. Jhdt. neu aufgebaut und heute oft Schloss genannt werden, sind andere nach dem Nordischen Krieg und seinen grossen Verwüstungen im frühen 18. Jhdt. neu errichtet worden.
Die meisten Häuser entstehen also in gut 100 Jahren und bilden eine architektonische Brücke zwischen West- und Osteuropa: Erbaut von westeuropäischen Architekten sind sie auch von russischen Elementen beeinflusst und spiegeln so die Geschichte der deutsch-baltischen Ritterschaften wieder. Sie sind die Wohnhäuser einer privilegierten adeligen Grundherrschaft und stehen als eine Art Verwaltungszentrum in engem Zusammenhang mit Wahrnehmung und Ausübung von gutsherrschaftlichen Rechten und Pflichten. Zusammen mit den dazugehörigen Immobilien sichern sie den Lebensunterhalt der baltischen Ritterschaft. Die einheimische Bevölkerung trägt als Knechte und Mägde ohne Geld und Besitz zum Wohlstand bei.
Viele Familien besitzen nicht nur ein Gut, sondern mehrere, die durch Kauf, Erbschaft oder Heirat auch immer wieder den Besitzer wechseln. So gehören zB. der Familie von Rennenkampff in Estland und Livland zwischen 1635 und 1919 47 Güter, und auch die Familie von Fircks kann mit einer ansehnlichen Zahl von sog. Muizas aufwarten. Im 18. / 19. Jhdt. nennt sie folgenden Besitz ihr Eigen.
Vor dem 1. Weltkrieg gibt es nach einigen Quellen in Estland 462, in Kurland 648 und in Livland 804 ritterschaftliche Güter, welche aber seit 1918 ihre Funktion als Zentrum von Grossgütern verloren haben, zerfallen oder fremd genutzt werden. Als Alters- und Pflegeheime, als Schulen, Kinos, Molkereien oder sogen. Kulturzentren werden sie der neuen Bestimmung angepasst: Linoleum überdeckt die oft zerlöcherten Holzböden, Holzwände unterteilen Räume und Wände, und Decken überstreicht man mit beiger oder brauner Farbe.
Nur im Nordosten Estlands gelingt es einer Anzahl von Gutsbesitzern, genügend Land hinzuzupachten und ein Stück alten Lebensstils zu bewahren, so den Wrangell auf Ruin, den Stackelberg auf Kurküll und den Harpes auf Finn. Im 2. Weltkrieg werden aber auch sie vertrieben oder umgesiedelt.
Das feudale Erbe wird während der 1. Unabhängigkeit und vor allem während der Sowjetzeit nicht besonders geschätzt. Die meisten Häuser verfallen bald, ein Verfall, der sich in der Zeit der Sowjetunion weiter fortsetzt.
Seit Lettland 1991 aber seine Unabhängigkeit zurückgewonnen hat, ist ein bemerkenswertes Rettungsprogramm im Gange: Über 150 Herrenhäuser stehen unter Denkmalschutz, und viele bieten Besuchern und Benutzern Kulturgeschichte und Anschauungsunterricht. Auch Estland bemüht sich, seine Gutshäuser zu sanieren und damit zu retten. Nationalstolz auf die eigene Geschichte und Ambitionen im Tourismus haben wohl dazu beigetragen.
C. Baugeschichte mit Beispielen
Die ältesten Gutshäuser sind entweder Umbauten der meist steinernen Ordensburgen, später oft ‚Schloss‘ genannt, oder aus Holz, denn z.Z. der Errichtung von St. Petersburg unter Peter d. Gr. ist die Konstruktion von Steinbauten im ganzen russischen Reich verboten; die Steine werden an der Newa benötigt.
Eine sehr grosse Zahl der heute noch existierenden Häuser wird im 18. und 19. Jhdt. gebaut, als viele Gutsherren durch die Aufhebung der Zollbeschränkungen mit Russland zu grossem Reichtum gelangen. Stark dazu beigetragen hat die wachsende Anzahl von Spiritusfabriken, deren Wodka weitgehend nach Russland verkauft wird. Deswegen setzt in der 1. Hälfte des 19. Jhdts. eine intensive Phase des Baus von Herrenhäusern ein.
Als aber nach dem 1. Weltkrieg viele Deutschbalten die jetzt unabhängigen Staaten verlassen und eine Agrarreform die Güter zerstückelt, beginnen Untergang und Zerfall von Betrieben und Häusern. Im Jahr 1922 sieht ihr Zustand in Estland folgendermassen aus:
- In gutem Zustand sind noch 106,
- in befriedigendem 225 Häuser,
- in schlechtem Zustand 169, unbrauchbar 125 und als Ruinen überleben 515 Gutshäuser,
- dh. von einer Gesamtzahl von 1140 Gebäuden sind mehr als die Hälfte verloren.
Barock und Klassizismus sind die vorherrschenden Baustile der baltischen Herrenhäuser. Während die älteren Gebäude vom Barock Katharinas der Grossen und ihrer italienischen Architekten beeinflusst sind, wechselt der Einfluss im Laufe des 19. Jhdts., und das englische und deutsche Vorbild wird immer wichtiger. Die englischen Landhäuser mit ihren weitläufigen Parkanlagen ersetzen die barocken Gebäude und Gärten.
Um 1800 bekommt die Wohnkultur in der mitteleuropäischen Oberschicht mehr Gewicht, die Welt der Damen und ihres häuslichen Umfeldes verändert sich, und diese Änderung erreicht auch das Baltikum. Das gesellschaftliche Leben, Einladungen, Ausflüge mit Kutsche oder Boot, Schlittenfahrten im Winter und kulturelle häusliche Anlässe, gehört jetzt zur adeligen Lebensart, was der Schriftsteller Eduard von Keyserling in seinen Büchern anschaulich beschreibt, und beeinflusst auch den Bau der Herrenhäuser:
- Die Gesellschaftsräume werden jetzt streng von den Schlaf- und Wirtschaftsräumen getrennt, und
- der ‚Salon à l’italienne‘ wird architektonisch hervorgehoben, oft halbrund errichtet.
- Die Gebäude bleiben in der Regel zweistöckig und rechteckig, werden aber in Länge und Breite ausgedehnt und erhalten im Klassizismus und in den nachfolgenden Stilmixturen oft Säulenreihen, die sich manchmal über zwei Stockwerke hochziehen.
Auch auf die Inneneinrichtung wird viel Wert gelegt, was an noch vorhandenen Parkettböden, Kachelöfen, Leuchtern und auf alten Stichen von Interieurs zu sehen ist. Hotels, die sich heute in den ehemaligen Herrenhäusern befinden, werden oft mit zwar nicht immer authentischen, aber zeitgenössischen Möbeln ausgestattet.
Ursprünglich einfaches Wohnhaus eines bäuerlichen Gutes entwickelt sich das Herrenhaus zu einem gesellschaftlichen Zentrum, mitten in einem Park mit alten Bäumen und oft auch an einem Teich oder an einem kleinen See.
Glossar
Ungurmuiza (dt. Oralen, Orellen)
Ungurmuiza ist ein von einem wunderschönen Park mit Eichen und Linde umgebenes Ensemble im Gauja Nationalpark, das heute ein Museum und ein Gästehaus beherbergt.
Erstmals 1399 erwähnt, kommt das Gut 1732 nach mehreren Besitzerwechseln (den Namen erhält es von der Familie v. Ungern —-Ungurmuiza / Haus der Ungern) in die Hände des russ. Generalmajors und Generalgouverneurs v. Finnland Johann Caspar v. Campenhausen.
Dieser lässt ein barockes Holzbebäude errichten, heute das letzte überlebende seiner Art, und vom Maler Georg Dietrich Hinsch mit Wandmalereien dekorieren. Neben Blumenmustern finden sich auch Szenen aus dem Leben des Freiherrn, ua. bewachen zwei Grenadiere mit dem Gesicht Peters d. Gr. das Schlafzimmer, ein Dank für die Errettung durch zwei Soldaten im nordischen Krieg. Ergänzt wird das Gut mit Viehstall, Kornkammer, Gartenpavillon, einem Teehaus und einer Begräbnisstätte für die Familienmitglieder.
1910 nach den letzten Umbauten ist das Gebäude noch in sehr gutem Zustand, 1917 vertreiben die örtlichen Bolschewiken den letzten Verwalter des Gutes und nutzen es als Militärlager; dabei kommt es zu ersten Beschädigungen und Plünderungen.
1920 verliert die Familie v. Campenhausen im Rahmen der lettischen Agrarreform den Besitz endgültig und wird dann 1939 wie alle Deutschen in den Warthegau im heutigen Polen ausgesiedelt, von wo den Mitgliedern der Familie 1945 die Flucht in den Westen gelingt.
Ungurmuiza wird in diesen Jahren stark beschädigt: Was die Familie nicht mitnehmen kann, verschwindet oder wird teilweise zerstört, die Wandmalereien auf den Holzwänden dienen als Brennholz oder werden übermalt.
Dank Spenden der schwedischen und lettischen Regierung kann dieses einzigartige Relikt einer vergangenen Zeit gerettet werden: die Gebäude sind renoviert, die übermalten Wandmalereien wieder sichtbar und die Besucher des Museums und des Hotels können die besondere Aura von Haus und Park geniessen.
Die Deutschritter
Die Deutschritter oder der Deutschritterorden, so genannt nach einem ehemaligen deutschen Spital in Jerusalem, wird 1190 in Akkon gegründet, zunächst als Spitalbrüderschaft, seit 1198 auch als ritterliche Kampfgemeinschaft zum Schutz der Pilger im Heiligen Land.
Er ist neben den Tempeln und den Johanniter der dritte grosse Ritterorden der Kreuzzugszeit.
Nach dem Verlust von Akkon 1291 verlegt der Orden seinen Sitz zuerst nach Venedig, dann auf die Marienburg im heutigen Polen. Dort wächst er zur stärksten Macht im Ostseeraum heran und gründet Ende 13. Jhdt. einen Ordensstaat im Baltikum. Die Niederlage gegen eine polnisch-litauische Union in der Schlacht bei Tannenberg 1410 beschleunigt seinen Niedergang.
Heute besitzt der Orden etwa 1000 Mitglieder, Priester und Ordensschwestern, und widmet sich vorwiegend karitativen Aufgaben. Seinen Hauptsitz hat er in Wien. In Oesterreich, Süddeutschland und der Schweiz verfügt er immer noch über beträchtlichen Grundbesitz.